Literatur: Gedanken, Geschichten, Romane

Lindo - my love


Lindo – my love


Heute, wenige Tage vor meinem neunten Geburtstag


Man hat mir gesagt, dass ich am 20. März auf die Welt gekommen bin. Aber was heisst das: Auf die Welt gekommen? Und was bedeutet der 20. März? Ich kann mich auf jeden Fall nicht daran erinnern, einmal auf die Welt gekommen zu sein; und schon gar nicht an einem 20. März. Also was soll das? – Heute auf jeden Fall lebe ich in einem Haus, zusammen mit zwei Buben, meinem Frauchen und meinem Herrchen. Ab und zu kommen noch weitere Menschen dazu, die dann aber früher oder später (manchmal sehr spät!) wieder gehen. Das Haus ist ganz nett, und meine „Familie“ eigentlich auch, wenn sie mich nur richtig verstehen würde. Aber dazu später mehr.

Vorerst versuche ich mich an meine Kindheit, meine ersten Tage zu erinnern. Vieles wurde mir erzählt, aber an das eine oder andere kann ich mich noch selber erinnern. Ich soll also am 20. März vor neun Jahren auf die Welt gekommen sein. Daran kann ich mich, wie schon gesagt, nicht erinnern. Aber ich weiss, dass ich auf einmal einen wunderschönen Duft wahrgenommen habe. Gesehen habe ich damals noch nichts. Aber dieser Duft lockte mich an, und auf einmal konnte ich etwas trinken. Es schmeckte wunderbar. Gehen konnte ich, so glaube ich wenigstens, auch noch nicht. Auf jeden Fall, so scheint mir, habe ich mich irgendwie auf allen Vieren zu diesem Duft hinbewegt. Wahrgenommen habe ich auch irgendwelche Stösse und eine Art Gerangel, das ich zum damaligen Zeitpunkt nicht richtig deuten konnte. Heute weiss ich, dass dies meine Brüder und Schwestern waren, die den gleichen lieblichen Duft wahr-genommen hatten und bei meiner Mutter Milch trinken wollten. Wir waren sechs Geschwister, die alle ihre Nahrung suchten und dies meistens gleichzeitig.

Meine ersten Tage und Wochen habe ich auf einem Bauernhof verbracht. Wir lebten in einer Scheune, die ich als sehr düster in Erinnerung habe. Jedes Mal, wenn wir ein wenig nach draussen gehen wollten, hat uns unsere Mutter zurückgehalten oder wir wurden von einer Frau zurückgeschickt. Ich habe diese Zeit als wenig schön in Erinnerung. Ebenfalls als nicht schön in Erinnerung habe ich die Zeit, als fremde Menschen kamen und zuerst den einen Bruder, dann die eine Schwester, dann wieder einen Bruder und nochmals eine Schwester von uns wegnahmen. Am Schluss blieb nur noch mein Bruder mit dem etwas dicken Kopf und ich auf dem Bauernhof zurück. 

Doch dann geschah etwas, dass mein ganzes künftiges Leben verändern sollte. Es war an einem warmen, sonnigen Tag, als vier Personen, zwei Kinder und zwei Erwachsene zu uns auf den Bauernhof zu Besuch kamen. Mein Bruder mit dem dicken Kopf und ich durften im Rasen spielen. Die Besucher näherten sich uns, und ich spürte, dass sich hier etwas abspielte, was mein künftiges Leben bestimmen würde. Die Kinder kamen auf uns zu, und ich wusste, dass ich mit diesen beiden Knaben mein ganzes weiteres Leben verbringen wollte. Also gab ich mir auch besonders Mühe, ihnen meine Aufmerksamkeit und Zuneigung zu schenken. Ich habe sie an den Händen geleckt und gehalten und mit meinem Schwanz ganz aufgeregt gewedelt. Sie haben mich gestreichelt und ganz liebe Sachen zu mir gesagt. Eigentlich war ich mir sicher, dass dies meine „Familie“ werden würde. Doch dann kam alles ganz anders.

Die Leute haben mit meiner Frau gesprochen und sind dann mit einem Winken von mir weggegangen. Ich bin unheimlich traurig gewesen. So traurig, dass ich lange Zeit nichts mehr gegessen habe. Als Folge davon hat mich meine Frau getadelt und in die Scheune eingesperrt. Dort bin ich lange Zeit geblieben. So lange, dass ich noch heute Angst vor der Dunkelheit habe und mein Vertrauen in die Menschen gelitten hat. Heute müsste ich eigentlich keine Angst mehr haben, aber was man halt einmal erlebt hat, bringt man kaum mehr weg. Ich sage mir halt immer wieder: Vertraue dir selbst, so kann dir niemand mehr so wehtun.


Ein Sommertag in meinem ersten Lebensjahr


Wie gewöhnlich musste ich die Nacht in der Scheune verbringen, zusammen mit meinem Bruder mit dem etwas dicken Kopf. Obschon alles in etwa gleich ablief, schien heute doch etwas Besonderes anzustehen. Meine Frau streifte mir ein Seil um den Hals und führte mich aus der Scheune. Sie steckte mich in einen Waschzuber und wusch mich mit einem Mittel, das für mich völlig fremd roch. Danach wurde ich getrocknet und sogar noch mit einer Bürste gekämmt. Schliesslich durfte ich alleine im Rasen draussen spielen. – Ich verstand die Welt nicht mehr.

Während ich im Gras lag und mich von der Sonne erwärmen liess, näherte sich ein Auto. Ich dachte zuerst, dass dies der Briefträger sei könnte, doch der war es nicht. Das Auto, das sich näherte, hatte ich schon einmal gesehen; nur wann und in welchem Zusammenhang. Ich überlegte und noch bevor ich auf die Lösung kam, entstiegen dem Auto die beiden Buben, die ich vor so langer Zeit kennen gelernt hatte. Sie sprangen auf mich zu und begangen mich zu streicheln und mir liebe Worte ins Ohr zu flüstern. Ich habe nicht alles verstanden, aber ich spürte, dass mich diese beiden Knaben ganz fest gernhatten. Daraufhin kamen auch die beiden Erwachsenen, die ich ebenfalls schon einmal gesehen hatte, auf mich zu und nahmen mich ebenfalls ganz lieb in die Arme. – Ich fühlte mich wohl.

Jetzt kamen in mir wieder die Erinnerungen hoch, wo mich diese Familie mit einem Winken verlassen und mich einfach zurückgelassen hatte. Der Gedanke daran stimmte mich traurig, und obwohl ich es als schön empfand, in den Armen der Buben gehalten zu werden, wäre es mir bald lieber gewesen, diese Familie wäre nicht mehr hierhergekommen. Ich hatte Angst, einmal mehr enttäuscht zu werden.

Auch dieses Mal gingen die Erwachsenen wieder zu meiner Frau, und ich glaubte schon, dass dies wiederum das Zeichen für den Abschied sei. Doch dann kamen die Erwachsenen zurück und nahmen mich einfach mit … zusammen mit den Buben. Wir stiegen in das Auto ein und fuhren los. … Ich hörte noch das Bellen meiner Mutter. Sagte sie: „Leb wohl mein Sohn?“ – Ich weiss es nicht. Ich war so aufgeregt.


Mein neues Zuhause


Nach einer unendlich langen Fahrt im Auto … sie ist mir zumindest so vorgekommen, weil ich noch nie so lange Auto gefahren bin, … stiegen meine Familie und ich in der Nähe eines Hauses aus. Die ganze Umgebung war für mich fremd, und ich erkannte nichts. Dies machte mir Angst! Alles bisher Vertraute – auch wenn es mir nicht sonderlich gefallen hatte – war plötzlich weg, und ich fühlte mich unendlich alleine. … Keinen Bruder mit dem etwas grossen Kopf mehr, keine Frau, die mich zuweilen beschimpft und getadelt hatte und keine Scheune, die mir doch ein wenig Geborgenheit gegeben hatte. All dies war auf einmal weg und nun stand ich hier auf einem Platz und wusste nicht wie mir geschah. Sollte ich anfangen zu weinen? Bellen konnte ich schliesslich noch nicht, denn dafür war ich noch zu klein. Oder sollte ich mutig voranschreiten und meinen Begleitern folgen, so wie sich mir das zu verstehen gaben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also fing ich an, zuerst einmal zu überlegen.

Überlegen braucht bei einem kleinen Hund seine Zeit, zumal er noch nicht genau weiss, was überlegen überhaupt bedeutet. Ich konnte mir zwar schon vorstellen, dass es darum gehen musste, Sachen gegen einander abzuwägen, um dann eine Entscheidung zu treffen. Doch um Sachen gegen einander abwägen zu können, musste man Erfahrungen gemacht haben, und die waren bei mir halt noch nicht so reichlich vorhanden. Also verliess ich mich auf meinen Instinkt.

Meine Mutter hatte mir einmal gesagt, und das ist mir geblieben: Sohn, wenn du nicht mehr weiterweißt, was zu tun ist, dann verlass dich auf deinen Instinkt. Leider hat sie mir aber nicht gesagt, was ein Instinkt ist. Einfach nur, ich soll mich darauf verlassen. Also verlasse ich mich darauf. Also verlasse ich mich auf meinen Instinkt.

Instinkt kommt sicherlich von „stinkt“ und mit dem „in“ voran muss es von mir kommen. Folglich muss es aus mir herauskommt. Aus mir heraus kommt manchmal etwas Gelbes und manchmal etwas Braunes. Das Gelbe riecht meistens ganz fein, das Braune eher weniger, also stinkt es. Trotzdem ist auch das Braune in mir, das raus muss. Nur wie ist es hineingekommen. Eigentlich kann es nur eine Erklärung dafür geben, nämlich, dass das was ich in meinen Mund hineinschiebe, kaue und esse, irgendwann auf eine andere Weise meinen Körper wieder verlassen muss. Das muss der „Instinkt“ sein!

Und wenn ich so weiter überlege, dann hat der Instinkt am Anfang immer etwas Verlockendes, meisten Wohlriechendes und Feinschmeckendes an sich, dem man sehr wohl folgen kann, zumal damit zumeist auch ein schönes Erlebnis verbunden ist. Also hat meine Mutter recht gehabt hat, wenn sie sagte: Folge deinem Instinkt, wenn du nicht weißt, was zu tun ist.


Ein Garten ganz für mich allein


Sei es wie es soll, ich bin auf jeden Fall meinem Instinkt gefolgt und stehe nun in einem wunderschönen Garten. Der Entscheid war richtig, denn dort warteten frisches Wasser, ein kühler Liegeplatz und Sträucher auf mich. Der Duft der neuen Umgebung fing an mir zu gefallen. Die Reise war schon etwas anstrengend, so dass ich mich jetzt zuerst einmal etwas ausruhen musste. …

Hallo, hallo Lin…, aufwachen! Hallo Lind…! Hallo Lindo. … Wer ruft den hier? Die beiden Buben rufen Lin… Lind… Lindo. Wen meinen sie wohl damit? Was heisst Lind… und so weiter? Ach, ist ja egal. Ich musste jetzt zuerst einmal etwas Gelbes von mir geben. Mmh, diese Blume scheint mir hierfür gerade richtig zu sein. Doch da ertönte auf einmal ein zischendes „Pfui“. – Was sollte denn das nun wieder heissen? „Pfui“ … noch nie gehört, doch dieses „Pfui“ sollte ich in den nächsten Tagen noch öfters zu hören bekommen und zwischendurch habe ich ernsthaft gedacht, dies sei mein Rufname sein könnte.

Meine Mutter hatte mir nämlich gesagt, dass jeder Hund einen Rufnamen erhalten werde. Was ein Name ist, das ist mir eigentlich klar. Was aber ein Rufname ist und wozu dieser dienen soll, darunter konnte ich mir nun wirklich nichts vorstellen. Meine Mutter hatte einfach gesagt, dies gehöre dazu, und dieser Name werde erst von meiner neuen Familie vergeben, weshalb sie mich einfach Sohn Nummer 3 nannte. Sohn Nummer 4 war im Übrigen mein Bruder mit dem etwas grossen Kopf.

Rufname hin oder her. Die beiden Buben zeigten mir auf ihre Weise, dass ich zu ihnen kommen soll. Selbstverständlich bin ich dieser Einladung gerne nachgekommen, obschon etwas Anderes mich viel mehr interessierte. Da nahm doch ein Vogel auf meinem Rasen Platz. Was soll denn das? Jetzt bin ich in diesem Garten und folglich hat ein Vogel hier nichts zu suchen. Also musste ich, bevor ich den Buben folgen konnte, diesen Vogel vertreiben. Mit einem zaghaften Versuch, einen Laut von mir zu geben, dafür aber mit viel mehr Schwung, habe ich dem Eindringling Saures gegeben. … Der wird sicherlich nicht mehr so schnell wiederkommen.


Ein Haus und keine Scheune


Aha, die Jungs wollen mich ins Haus locken. Was wollen sie dort wohl von mir. Komm Lin…, komm Lind…, komm! – Also lasse ich mich mal überraschen. Vom Garten her lässt sich das Haus über den Sitzplatz betreten. Eine Tür steht weit offen und im angrenzenden Raum stehen komische Gegenstände, auf welche sich die Leute hinsetzen. Sie sitzen nicht einfach auf dem Boden, sondern auf Gegenständen. Das ist zwar komisch, sieht aber recht bequem aus. Ich glaube, das muss ich zu gegebener Zeit auch einmal ausprobieren.

Vorerst zeigen mir die Knaben allerdings ein ovales Körbchen, in welches sie mich hineinheben. Das Körbchen hat eine weiche Unterlage und fühlt sich ganz angenehm an. Nur, es riecht so … eigentlich nach nichts und folglich habe ich auch gar keine Lust dort zu bleiben. Viel interessanter erscheinen mir die anderen Gegenstände im Raum: ein Teppich, verschiedene Kabel, Blumen, ähnlich wie im Garten, und verlockendes Spielzeug auf dem Boden. Letzteres weckt mein Interesse am meisten. Doch da kommt schon wieder dieses „Pfui“. – Heisst das nun, ich darf oder ich darf nicht zubeissen?

Vom Raum, wo wir uns befinden, führt eine Stiege nach oben und eine nach unten. Beide haben recht hohe Tritte, und der Aufstieg, respektive das Niedersteigen der Treppe kann nicht problemlos erfolgen. Ich entschliesse mich für das Runtersteigen, zumal mir das einfacher erscheint. Doch auch das muss gelernt sein. Nur nicht zu schnell, damit man nicht über seine vier Pfoten strauchelt. Uff, im ersten Anlauf geschafft. Nun stehe ich in der Küche. Den Namen „Küche“ habe ich mir gemerkt, zumal mir meine Mutter einmal gesagt hat, dass die Menschen dort ihre Esswaren aufbewahren. Und tatsächlich! – Mein Frauchen steht auch schon dort und reicht mir in einem Fressnapf eine kleine Leckerei: Brot, bestrichen mit Butter und Konfitüre. Mmh, lecker!

Was das Betreten der Treppe nach oben betrifft, so lasse ich das mal für den Moment sein. Eigentlich bin ich von der langen Reise viel zu müde geworden und möchte nur noch schlafen. Nur wo? – Wohl am besten hier, neben dem Fressnapf. Dies scheint nun aber doch nicht der richtige Platz zu sein, denn mein Frauchen hebt mich auf und führt mich zurück zum Körbchen. Dort möchte ich aber lieber nicht bleiben … eben, weil es nach nichts riecht. Trotzdem lege ich mich hin. Die Müdigkeit ist einfach zu gross. Neben mir auf dem Boden nehme ich noch mein Frauchen wahr. Sie schenkt mir ein wenig Geborgenheit. Danke! Die Stimmen der Knaben verstummen und die Umgebung verdunkelt sich.


Meine erste Nacht im meinem neuen Zuhause


Halt wo bin ich? Wer ist diese Frau neben mir? Ich bin soeben erwacht und habe Angst. Wo ist mein Bruder mit dem etwas grossen Kopf? Wo ist meine Mutter? Wo ist meine Scheune? Ich kenne hier nichts. Langsam fange ich an zu denken und auch ein wenig zu überlegen. Wie war das noch mal mit gestern? Ich wurde getrennt von meiner Mutter und meinem Bruder und bin jetzt in einem neuen Haus, dem Haus meiner Familie und folglich wohl auch in meinem Haus. Also bis hierhin scheint einiges zu stimmen. Ich erinnere mich an den Garten vor dem Haus und die Leckerei im Fressnapf. Die Frau neben mir riecht gleich wie jene von gestern und muss folglich mein Frauchen sein. Auch das geht auf. Nur was macht sie noch hier? Will sie mir meinen Platz streitig machen oder einfach nur in meiner Nähe sein, damit ich mich nicht so einsam fühle. Letzteres stimmt mich glücklich und gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Beruhigt ob dieser Erkenntnis lege ich mich erneut nieder und schlafe wieder ein. Beim nächsten Erwachen ist es bereits hell im Zimmer.


Mein erster Tag in meinem neuen Zuhause


Kaum öffne ich die Augen, steht der eine Bube vor mir. Er ist ein kleiner Junge von vier Jahren, der sich zu mir hinunter beugt. Er streichelt mich über den Kopf und am ganzen Körper. Dann sucht er Platz in meinem Körbchen. Er nimmt meine Pfoten in die Hände und tastet diese von oben nach unten ab. Immer wieder flüstert er mir liebe Sachen ins Ohr. Eigentlich ganz nett, nur braucht er ziemlich viel Platz in meinem Körbchen. Trotzdem lasse ich es geschehen und gemeinsam mit ihm lassen wir den jungen Tag noch etwas älter werden. Mein Frauchen ist im Übrigen in der Zwischenzeit aufgestanden und hat sich in die Küche begeben. Könnte dies heissen, dass schon bald eine weitere Leckerei ansteht, und ich ihr folgen sollte. Mal schauen wie sich das Ganze entwickelt. Das heisst: Mit einem Ohr und Auge wach bleiben, mit dem Rest noch etwas dösen.


Der erste Spaziergang


An den ersten Spaziergang kann ich mich noch ganz gut erinnern. Er verlief zwar nicht so ganz nach meinem Willen, aber nichtsdestotrotz konnte ich der Umgebung zeigen, dass neues Leben eingekehrt war.

Jetzt aber alles mal der Reihe nach. Mein Frauchen sagte mir, dass wir heute spazieren gehen. Mit dem Begriff "Spazierengehen" konnte ich noch nichts anfangen. Spazieren gehen hörte sich für mich an wie Spatzen beim Gehen. Und einen Spatzen habe ich schliesslich schon einmal gesehen, nämlich in meinem Garten, und da war er auch gegangen, bevor ich ihn fortgejagt habe. Mein Frauchen sagte mir dazu: lass doch den Spatzen in Ruh', der hat dir doch gar nichts getan. Also muss "spazieren gehen" etwas mit einem Spatzen zu tun haben.

Hierzu muss man wissen, dass meine Mutter mir gesagt hat, dass ich ein schlaues Kerlchen sei und sehr schnell lerne. Wenn einem die Mutter das sagt, dann muss es stimmen, und folglich kann ich mit meiner Annahme nicht völlig falsch liegen.

Also gehen wir Spatzen jagen. Tönt zwar lustig, aber so richtig daran glauben kann ich nicht, zumal mir mein Frauchen gesagt hat, ich solle das Spatzen jagen lassen. – Hmm, was könnte es denn sonst bedeuten? Vielleicht habe ich mein Frauchen auch nur nicht richtig verstanden? - Aber nein, sie wiederholte den Satz: "Komm Lindo, wir gehen spazieren."

Ach was, ich lass mich einfach einmal überraschen. Allzu viel studieren strengt unglaublich an, und ich muss meine Kräfte schliesslich aufs Wesentliche konzentrieren. Aber, was ist das Wesentliche? Eigentlich habe ich auf diese Frage auch noch nicht eine klare Antwort. Und so bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten, dazu zu lernen und den wohlgemeinten Ratschlägen meines Frauchens zu folgen. Also gehe ich einfach einmal auf mein Frauchen zu und harre der Dinge, die da kommen mögen. - Dies war wahrscheinlich nicht die schlechteste Entscheidung.


Auch rückblickend betrachtet kann ich jedem jungen Hund nur raten, wohlgemeinte Ratschläge dankend entgegen zu nehmen. Wenn danach die gemachten Erfahrungen auch noch wohlwollend weitergegeben werden, so ist schon einiges gewonnen. Mir haben sie auf jeden Fall geholfen, ein stattlicher Hund zu werden. Ich kann heute zwischen Gut und Böse, zwischen Aufrichtigkeit und Lüge und zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. – In diesem Sinn wünsche ich allen Hunden gleich schöne Erfahrungen machen zu dürfen, wie ich sie machen durfte und nach wie vor machen darf, und ich verabschiede mich mit einem kräftigen «Wau»!


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Lindo
© 2021 Peter Baumgartner, Bern/Schweiz